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Flucht-Gesichter Diesen Text vorlesen lassen

August 2015

Ja, in meiner Rolle als Karl Kolumna, dem Berichterstatter für den lokalen Mikrokosmos, komme ich durchaus hin und wieder auch in den Genuss, global angehauchte gesellschaftliche Belange zu bearbeiten. So auch in diesem Falle: Es ging im weitesten Sinne um Flüchtlingskinder und -jugendliche, konkret um deren Beschulung. Denn auch für diese Zielgruppe besteht eine Schulpflicht – und die gilt bekanntermaßen auf zwei Seiten. Auf denen der zu beschulenden, also den Flüchtlingen, und auf der Seite der Schulträger.

 

Nun berichtete ich also über die Einrichtung einer entsprechenden Klasse, die zum Ziel hatte, den der deutschen Sprache noch nicht mächtigen eben diese näher zu bringen. Sie sollen möglichst schnell in die Lage versetzt werden, dem Unterricht in Regelklassen folgen zu können. In dieser besonderen Konstellation hatte man die Schule mit den gerade noch verfügbaren Kapazitäten nicht alleine gelassen, sondern sich mit allen weiterführenden Bildungsinstituten zusammengesetzt und eine gemeinsame Lösung für diesen speziellen Lehrauftrag gefunden. Nicht unbedingt der übliche Weg. Das hatte so gar nichts von Flucht, von „macht ihr mal, ich kann nicht“.

Anders die politisch-verwalterische Ebene. Nicht geklärt war zu Schuljahresbeginn, wer eigentlich für die Kosten aufkommt. Das Land als Träger der Flüchtlingseinrichtung und „Verteiler“ der Zuwanderer? Die Kommune als Träger der Schule? Nein, erst mal die Schulleitung selbst, die aus dem laufenden, eng gestrickten Haushalt heraus diese Zusatzaufgabe stemmen musste und damit zunächst alleine stand. Gut, die Sache mit den Personalkosten hatten sich die Schulen geteilt, das war schon mal ein wichtiges Signal. Aber Lehrmittel mussten bezahlt werden und die Übermittagsbetreuung für die jungen Menschen mit kaum vorhandener Anbindung und einer bunten Mixtur aus Sprachen war aufgrund fehlender Mittel für die benötigte betreuende Stelle noch nicht sicher gestellt. Ein Umstand, auf den ich in meinem Artikel selbstverständlich auch eingehen wollte.

Ich selbst hatte meinen ersten recht oberflächlichen Berührungspunkt mit diesen Flüchtlingskindern, die ich bisher ganz hervorragend vor allem theoretisch „bearbeiten“ konnte, während des kurzen Fotoshootings für den Artikel. Ich erlebte nicht nur die äußerlich erkennbare europäische Mischung – wobei diese jungen Menschen durchaus auch schon länger in Deutschland hätten leben können, denn nichts ließ sie in auch nur irgendeiner Form den Stempel „Zuwanderer“ tragen – aus kleinen und größeren Personen. Ich erlebte teils ernste Gesichter, teils fröhliche, teils albern-ausgelassene, die glaubten, sich für ein Foto ein wenig selbst zum Affen machen zu müssen. In keinster Weise anders als die anderen Klassen, die sich vorher vor meine Kamera begeben hatten. Aber jedes dieser Gesichter erzählte hinter der Fassade eine völlig andere Geschichte – ganz sicher. Gerne wollte ich jede einzelne erzählen, hinterfragen, öffentlich machen; sensibilisieren für ihre Situation, Verständnis wecken bei denjenigen, die ihr Hiersein argwöhnisch, vielleicht sogar ablehnend betrachten. Aber das wäre etwas zu weit gegangen für diese Menschen, die erst mal hier ankommen, über die Institution Schule erfahren dürfen sollen, dass auch sie von einem Teil der für sie Fremden als Gäste empfangen und später als eine/-r von ihnen aufgenommen werden. Der hohe Anteil von Schülern mit zum Teil schon weit zurückliegendem Migrationshintergrund kann dabei sogar hilfreich sein – hoffentlich. Ein bisschen nährte meine Hoffnung auf eine bessere Welt das Video, das in den sozialen Netzwerken die Runde gemacht hatte: Ein Reporter fragt einen Kindergartenneuling, ob es in seiner Gruppe Auslänger gebe. „Nö, da sind nur Kinder.“ Wer Herbert Grönemeyer 1980er-Jahre-Klassiker bis hierhin noch nicht verstanden hatte, kam doch spätestens jetzt nicht mehr an seiner Bedeutung vorbei.

Aber zurück zur Flucht; Flucht vor Verantwortung und Kosten durch Wegducken, aber eben auch jene, die genau das nicht taten und im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihrer im Schulgesetz verankerten Pflicht nachkamen, beziehungsweise dann eben doch sogar darüber hinaus gingen. War also diese Verantwortungsflucht für den Artikel zumindest zum Teil ins Gegenteil gekehrt, kam plötzlich in der weiteren Beschäftigung und Recherche eine ganz andere Flucht ins Spiel, die vor der Öffentlichkeit. Ich musste auf einmal Argumente finden gegen das empfunden Zurschaustellen einer Randgruppe, gegen Befürchtungen rechtsgerichteter Strömungen und Zeigefinger. Es musste mir also noch stärker als bis zu diesem Zeitpunkt gedacht gelingen, die positiven Signale im Artikel zu finden und herauszustellen, das „wir sind hier und gehören zu euch“ betonen. Und dennoch den Dreh finden, die finanziellen Aspekte dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe nicht außer Acht zu lassen.

Nun gut, letztendlich hatte ich irgendwann einen Text zusammengestellt, der den Versuch machte, emotionale Aspekte zwar anzukratzen, aber vor allem die sachlichen Zusammenhänge darzustellen. Ich ließ mehrere Schulleitungen und einen Verantwortlichen der Bezirksregierung zu Wort kommen, stellte den Paragrafen aus dem Schulgesetz dar. Und hing auch den „Bettelbrief“ der Schule, den Aufruf für Spenden oder Sponsoren für ein Schuljahr Übermittagsbetreuung, hinten dran. Und irgendetwas muss ich dabei richtig gemacht haben, denn noch am Vormittag des Veröffentlichungstages rief mich die Schulleitung begeistert an. Mir wurde nicht nur der Dank für den Artikel zuteil, nein, es habe sich sofort eine „ältere Dame“ gemeldet, die den vierstelligen Betrag für das Schuljahr gerne überweisen möchte. Einen näheren Zugang zu der „älteren Dame“ bekam ich nicht. Ich hätte schon gerne. Ihre Motivation, sie selbst und ihre Geschichte auch öffentlich zeigen, das Signal „wir lassen euch nicht alleine“ in der Tageszeitung zelebrieren. Aber ich musste mich jetzt erst mal zurücknehmen, die Möglichkeit der Darstellung, ob anonym oder mit persönlichem Bezug, würde sich bestimmt an anderer Stelle noch ergeben. Es gab sie also auch, diese anderen Gesichter der Flucht: Hilfsbereitschaft, Empathie und Sympathie, Verständnis für vermutlich schlimme Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre, die hinter den Menschen liegen, deren Zukunft so ungewiss ist wie Gewerbesteuererträge in und nach Wirtschaftskrisen.

„Ältere Dame“. Ich erinnerte mich an persönliche Begegnungen mit Menschen dieser Gruppe. Und an Dokumentationen im Fernsehen. Wie sie selbst von Flucht berichteten, die sie als Kinder erlebt hatten. Die ihre Freunde erlebt hatten. Die sie aus den Erzählungen ihrer Eltern kannten. Vielleicht waren es genau solche eigenen Erlebnisse, die die „ältere Dame“ bewegten, spontan diese enorme Geste zu zeigen, bereitwillig eine nicht geringe Summe für die vermeintlich Schwachen der Gesellschaft herzugeben. Ich wünschte es mir fast, dass es so war; weil ich genau dahinter die nächste Geschichte für den Journalisten sah. Aber eigentlich war es auch egal: MEIN Artikel hatte das bewirkt, ich hatte dafür gesorgt, dass jemand die Welt ein kleines bisschen besser machen konnte. Und das tat gut.



Autor: Muelders -- 26.08.2015; 00:12:30 Uhr

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