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Das Wichtigste Diesen Text vorlesen lassen

Juli 2015

Es war einer dieser Tage, von denen nicht mehr allzu viel zu erwarten war: Noch etwas Arbeiten, ins Fitnessstudio, abends ein wenig der Online-Sucht nachkommen, kurz im Dating-Portal nach neuen Potentialen Ausschau halten und danach noch mal etwas Arbeiten.


Ich betrat, wie ich es in den vergangenen Monaten häufig nach noch aufzuarbeitenden Terminen tat, das in das Fast-Food-Lokal meines Vertrauens integrierte Café und bestellte wie so oft mein "Menü", bestehend aus einer Kaffeespezialität und einem leichten Erdbeerkuchen. Während die nette Dame hinterm Tresen sich an die Zubereitung machte, ging ich zum Tisch und baute schon mal mein Notebook auf; ein Ritual, das die Angestellten schon genauso gut kannten wie meine Bitte um den Kassenbeleg. Und nicht nur die: zwei Tische weiter fiel mir der ältere Mann auf, ich schätze ihn so zwischen Ende 70 und Anfang 80, den ich hier auch schon häufiger mit seinen Kreuzworträtseln, seinen beiden Discounter-Plastiktüten und dem bunten Regenschirm gesehen hatte. Er nickte mir freundlich lächelnd zu: "Na, wieder Arbeiten?" Etwas überrascht grüßte ich mit ebenso freundlichem Gesichtsausdruck zurück: "Ja, genau. Arbeit muss sein, egal wo." Womit ich zwischen den Zeilen schon mal die berufsbedingte Freiheit zum Ausdruck bringen wollte. "Bei mir nicht, ich hab die Rente durch." Wir sinnierten etwas über den Spaß an der  Arbeit und an dem, was er noch so macht in seinem Leben. Kurz unterbrochen von der netten Fast-Food-Ketten-Angestellten, die freundlich auf das fertige Heißgetränk hinwies: "Kakaopulver drauf?" "Ja gerne." Auch das gehörte zu "unserem" Ritual.
Ich holte also kurz mein Tablett ab und setzte mich - mehr in Richtung des alten Mannes, der sich inzwischen vollständig von seinem Sudoku abgewendet hatte, als so richtig hinter meinen Tisch mit hochgefahrenem Notebook drauf. Du musst noch den Text schreiben, schoss es mir durch den Kopf. Aber dieser Mann möchte sich unterhalten - und du kannst deine Zeit doch frei gestalten. Also hörte ich zu, einem Senior, der eigentlich gar nicht so genau wusste, was er erzählen wollte - davon aber ne ganze Menge in peto hatte. Er berichtete mir leidenschaftlich, manchmal stockend und nachdenkend, von seiner Laufbahn als freiberuflichem Ingenieur, einem der ersten seiner Art in Deutschland. Von seinem Leben als Junge in den Wirren des Weltkriegs, seinen Stationen in den östlichen Gebieten, dem Weg nach Westdeutschland, ins Bergische Land, einigen Jahren im Schwarzwald und in Köln und schließlich den Weg zurück ins "Zentrum Deutschlands", wie er es nannte, ins Niederbergische. Manche Dinge erzählte er zweimal, aber das störte mich nicht. Irgendwann sei er zum Bergwandern, später auch zum Klettern gekommen. Er machte die Anfänge der Windsurfing-Bewegung mit und plante seine Reisen immer schon lange im Voraus. Überhaupt sei das Planen und Dinge aufschreiben sehr wichtig, das machte er mir gleich mehrfach klar. Im Herbst überlegen, wohin die Sommerreise gehen soll und die Möglichkeiten aufschreiben, das Für und Wider auf einen anderen Zettel. Beruflich brauche ER das ja nicht mehr, aber wichtig sei das. Und aufzuschreiben, was man erlebt habe, das sei das Wichtigste. Ich streute immer wieder mal  Fragen - das konnte ich ja von Berufs wegen ganz gut - und manchmal auch Halbweisheiten - durchaus ehrfurchtsvoll begleitend - ein. Aber an dieser Stelle ging ich etwas intensiver ein: "Schreiben ist der Hauptteil meiner Arbeit, da habe ich wenig Lust, meine Freizeiterlebnisse auch noch zu verschriftlichen." In Gedanken fügte ich an: Außerdem haben wir heute Smartphones mit Kamera. "Aber das Aufschreiben ist das Wichtigste, damit man sich Monate später wieder erinnert und auch neue Gedanken bekommt", entgegnete er vehement und weiter nachdenklich. Ganz unrecht hatte er ja nicht und ich machte es in vielen Prozessen ja genauso. Wir kamen noch auf einige andere Themen, die wir ansprachen, auch die Vorbereitung auf die Endlichkeit des Seins war dabei. Irgendwann passte ich einen günstigen Moment, eine Gedankenpause, ab und entschuldigte mich, aber ich müsse tatsächlich noch "was tun". Ich bedankte mich für das anregende und nette Gespräch und wand mich nach seinen letzten Worten meinem Notebook zu. Er beugte sich über ein Kreuzworträtsel, nicht mehr das begonnene Sudoku, deutete noch zwei unlösbare Fragestellungen an, für die er Zuhause nachschlagen müsse, dann wird es ruhig.
Einige Zeit später, ich hatte meinen Text etwa zur Hälfte fertig, erhob sich der Mann zwei Tische neben mir und begann, sich den Mantel überzustreifen, seine beiden Tüten einzupacken und sie zusammen mit dem bunten Regenschirm bereit zu legen. Ich beobachtete das Ganze aus dem Augenwinkel, ohne von meinem Notebook abzulassen. Ich hatte irgendwie den Eindruck, ICH dürfte den Moment der Verabschiedung nicht verpassen. Ich blickte zum richtigen Zeitpunkt auf, der alte Mann kam zu mir und wir wechselten noch mal einige Worte. Dann wünschte ich ihm einen schönen restlichen Abend und Alles Gute. Er erwiderte die Wünsche und ich war mir sicher, er meinte das genauso ernst wie ich. Immerhin war er davon überzeugt, dass wir nur auf der Erde wandeln, um für das unausweichliche Miteinander-klar-kommen (er hatte es noch etwas spiritueller formuliert) der Seelen zu üben. Jedenfalls packte er Tüten und Schirm und zog von Dannen.

Plötzlich betritt der alte Herr wieder das Lokal. Ich war mit meinem Text fast durch. Zielstrebig steuert er "seinen" Platz an, immer noch bepackt mit den beiden Plastiktüten und seinem bunten Regenschirm. Als er mich sieht, lächelt er mir zu und sagt: "Hallo." Dabei nickt er mir freundlich zu. Ich erwidere erstaunt: "Ach, hallo. Da sind Sie ja schon wieder!" Als hätte er nichts anderes erwartet, sagt er - halb fragend, halb wissend -  prompt. "Ich war schon hier, oder? Na, dann geh ich jetzt wieder. Ich wusste nicht mehr genau. Einen schönen Abend Ihnen noch." - "Ihnen auch und Alles Gute."
So richtig überrascht war ich nicht, trotzdem bekam seine mehrfach geäußerte Dringlichkeit des Aufschreibens von Erlebtem mit einem Schlag eine neue Bedeutung...



Autor: Muelders -- 23.08.2015; 00:30:40 Uhr

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